Die Welle, von der sie sagen werden, sie kam so überraschend
Ein wertschätzender Umgang mit Kolleg:innen, Mitarbeiter:innen oder Mitmenschen ist immer seltener. Es beginnt mit dem Aufhalten einer Tür, wenn nach uns jemand ein Gebäude betritt und endet damit, aktiv zuzuhören und unser Gegenüber nicht als selbstverständlich wahrzunehmen.
Nun stecken wir immer noch in der Pandemie und der frühkindliche Bildungsbereich, unser gesamtes Bildungssystem, steht kurz vor dem Kollaps. Kinderdurchseuchung, sich ständig ändernde Regelungen und Vorgaben, Beibehaltung der Präsenzpflicht mit dem gleichzeitigen Sinken der Bildungsqualität, etc., lassen eines erahnen: die nächste Welle wird kommen und am Ende werden alle überrascht sein, dass sie so plötzlich kam. Die Kündigungswelle im (frühkindlichen) Bildungsbereich.
Das Fachkräftebarometer hat diesen Monat eine neue „Zahl des Monats“: 10.942
So viele Stellen für Erzieher:innen waren 2021 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet. Ein plus seit 2010 von +157%. Im Gegensatz dazu stehen 8.599 als arbeitslose Erzieher:innen. „So kamen im Jahr 2010 noch etwa 253 arbeitslos gemeldete Personen mit dem Zielberuf Erzieherin bzw. Erzieher auf 100 offene Stellen. Im Jahr 2021 waren es bundesweit nur noch rund 79 Personen.“ (Fachkräftebarometer, Zahl des Monats Februar)

Im Gegensatz dazu hatten 3.777.855 Kinder im Jahr 2021 einen Platz in einer Kindertageseinrichtung - mehr als jemals zuvor. (Fachkräftebarometer, Zahl des Monats Januar) Und die Anzahl der Geburten steigt weiter, zumindest in den Monaten Januar bis August 2021, wie aus der Pressemitteilung im November von DESTATIS zu entnehmen ist.

Wertschätzung und Mitarbeiterbindung. Zwei Themen die in der freien Wirtschaft normal sind. Mitarbeiter:innen zu halten, sie zu fördern und wertzuschätzen. Im Bildungsbereich sind wir hiervon noch weit entfernt. Anstatt also damit zu argumentieren, dass Kita-Gruppen oder komplette Kitas geschlossen werden müssen, denn das Personal fehlt „wegen Corona“ oder „weil zu viele schwanger werden“, sollte einmal auf den Tisch gebracht werden, was der tatsächliche Grund ist. Natürlich steht es außer Frage, dass vielerorts Kitas auf Grund von Quarantäne-Regelungen geschlossen sind, aber sich darauf „auszuruhen“ und zu denken es würde nach der Omikron-Welle besser werden, ist in meinen Augen der falsche Weg.
Sich hinter fadenscheinigen Begründungen zu verstecken ist relativ einfach, doch verschließt man die Augen vor einem Problem, das uns alle angeht. Denn Jede:r trägt dazu bei, bewusst oder unbewusst, dass unser Bildungssystem in Deutschland kollabiert. Schon einmal darüber nachgedacht?
Man merkt erst immer dann, dass etwas fehlt oder falsch gelaufen ist, man etwas „hätte tun sollen“, wenn es zu spät ist. Eine über 90%-Frauenquote im frühkindlichen Bildungsbereich und deren Recht auf eigene Familienplanung und private Zukunft darf nicht als Argument für den Fachkräftemangel dienen, es hat etwas mit unserem Verhalten zu tun. Es ist eine Tatsache, dass viele Frauen in diesem Berufsfeld tätig sind, aber „Schuld“ für den anstehenden und bereits bemerkbaren Fachkräftemangel sind mit Sicherheit nicht die Mitarbeiter:innen in den Kitas, Grundschulen oder weiterführenden Schulen, sondern wie wir mit ihnen umgehen (und politisches Versagen).
Unter anderem wären das:
• Welches Recht haben Eltern, Mitarbeiter:innen im Bildungsbereich (am besten noch vor dem eigenen Kind) anzuschreien?
• Welches Recht haben Eltern, sich von oben herab zu zeigen, nur „weil das ein Frauenberuf ist“?
• Welches Recht hat die Politik, sich hinter Mitarbeiter:innen im Bildungsbereich, der unser wichtigster und zukunftsträchtigster Bereich in Deutschland sein muss, zu verstecken anstatt sie zu fördern und zu schützen?
• Welches Recht haben Eltern, sich darüber zu mokieren, dass „wieder eine schwanger ist“?
• Welches Recht haben Eltern, sich lautstark beim Kita-Personal zu beschweren, warum es zu wenig Personal gibt?
• Welches Recht haben Träger, sich hinter ihren eigenen Mitarbeiter:innen zu verstecken, anstatt sich vor diese zu stellen?
Als ehemalige Kita-Geschäftsführerin habe ich so manches erlebt und alles lässt mich fremdschämen. Fremdschämen für eine Gesellschaft, die die externe Bezugsperson(en) des eigenen größten Schatzes fast schon bekämpfen, statt miteinander ins Gespräch zu kommen und Hand in Hand zu arbeiten.
>>Es lässt mich fremdschämen über ein Land, in dem Kinder nichts zählen.
>>Es lässt mich fremdschämen über die Überheblichkeit mancher Eltern, die sich und ihren Beruf in Gesprächen innerhalb der Kita wichtiger nehmen als die Bildung, Betreuung und Förderung ihres Kindes.
Kindertageseinrichtungen sind Bildungseinrichtungen.
Auch wenn der Bildungsbereich in Deutschland für einen selbst nicht attraktiv erscheint, so ist er dennoch für jemand anderen genau der richtige Ort. Ein Berufswunsch für jemanden, der mit Leidenschaft und Engagement unsere Zukunft bildet, fördert und ja, auch betreut. Es sind die Mitarbeiter:innen, vor allem in den Kindertageseinrichtungen und der Tagespflege, die seit zwei Jahren die Stellung halten und für unser höchstes Gut da sind, damit wir arbeiten gehen können. Die Wirtschaft am Laufen halten mit unserer Arbeitsleistung.
Daher sollten wir uns eines fragen:
Würden wir in unserem Job Kolleg:innen anschreien? Würden wir über den Wegfall einer ganzen Abteilung ebenfalls äußern, dass das „wegen Corona“ sei oder „weil sie alle schwanger sind“, oder würden wir eher bei z. B. Kununu nachlesen, wie die Bewertungen sind? Würden wir vielleicht damit argumentieren, dass die Führungskraft/der Arbeitgeber nicht optimal seien und die Rahmenbedingungen die Kündigungswelle ausgelöst haben?
Wir müssen endlich damit aufhören, fadenscheinige Begründungen, die zwar gut klingen, doch deren Verlauf wir nicht beeinflussen können vorzuschieben und das angehen, was die wirkliche Wurzel allen Übels ist:
die Wertschätzung die wir als Gesellschaft dem Bildungsbereich in Deutschland geben.








